
Beteiligung marginalisierter Gruppen: Vier wichtige Erkenntnisse
So gelingt das Einbeziehen kaum sichtbarer Gruppen in Beteiligung
- Die Ansprache über Mittlerorganisationen ist ein wichtiger Hebel, um Kontakt zu den gewünschten Zielgruppen aufzunehmen.
- (Finanzielle) Anreize in Kombination mit dem Vertrauen in Organisationen waren die zentralen Faktoren, um die gewünschten Menschen in den Prozess einzubinden.
- Realistisch bleiben gehört zum kompletten Verfahren: Marginalisierte Gruppen stehen positivistischen Haltungen skeptisch gegenüber.
Coffee Lecture "Wie wir marginalisierte Gruppen beteiligen – ein Erfahrungsbericht"
Gruppen am Rand der Gesellschaft, wirtschaftlich benachteiligt, wenig in der Öffentlichkeit sichtbar: Das sind die sogenannten marginalisierten Gruppen. Dazu gehören Menschen mit Migrationshintergrund, Arbeitslose oder kinderreiche, finanzschwache Familien. Oft spricht man öffentlich über sie statt mit ihnen, wie auch eine Untersuchung des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft zeigt.
Soll Bürgerbeteiligung einen echten Mehrwert wie die Stärkung der Demokratie bieten, muss sie ALLE Beteiligten einbeziehen – inklusive der marginalisierten Gruppen. Wie das realisiert werden kann, machen wir in diesem Beitrag an einem Beispiel aus der Praxis deutlich.
Eine faire Energiewende für alle bzw. „Fair Energy Transition for all“ (FETA) hieß ein Projekt, welches über zwei Jahre hinweg mit Fokusgruppen in neun europäischen Ländern arbeitete. Ziel waren Vorschläge aus der Bevölkerung an die Politik für eine Energiewende, um schwerwiegenden Auswirkungen des Klimawandels abzumildern. Dabei standen besonders wirtschaftlich schwache und/oder sozial benachteiligten Gruppen im Mittelpunkt, die von der Klima- und Energiewende negativ betroffen sein werden.
FETA ist im Oktober 2022 ausgelaufen: Was waren die wichtigsten Erkenntnisse daraus? Im Rahmen der Open.NRW-Reihe der Coffee Lectures berichtete Charlotte Ruhbaum von der beteiligten Stiftung Mercator, über das Projekt und was es für marginalisierte Gruppen bedeutet.
Erkenntnis 1 – Fokusgruppen als Beteiligungsformat wählen
Fokusgruppen bieten die Chance, die Meinungen von Menschen in einem bestimmten Kontext und in einem geschützten Umfeld zu erfassen. Die Meinungen zu einem Thema wie Klimaschutz können vertieft werden: So ist es gut nachvollziehbar, warum bestimmte Argumente begrüßt oder abgelehnt werden. Das bietet wiederum eine gute Basis für nachfolgende Maßnahmen, zum Beispiel die Kommunikation zum Projekt. Fokusgruppen helfen auch zu beurteilen, „was kommt eigentlich an in der Kommunikation“, sagt Charlotte Ruhbaum.
Für die Auswahl der Teilnehmenden an den Fokusgruppen galt die Voraussetzung „wirtschaftlich benachteiligte Bevölkerungsgruppe“, z. B. Menschen
- mit wenig Einkommen
- die Sozialleistungen beziehen
- die von Energiearmut betroffen oder bedroht sind
- die eine Bandbreite bei Alter, Geschlecht, Bildung, Wohnort oder Haushaltsgröße abbilden.
Erkenntnis 2 – Zielgruppen ansprechen über Verbände und Institutionen
Wo spricht man die gewünschten Zielgruppen an? Wie kann man sie zum Mitmachen bewegen? Der größte Erfolg konnte über sogenannte Mittlerorganisationen erreicht werden. Da es sich um sozial oder wirtschaftlich benachteiligte Gruppen wie Arbeitslose, Geringverdienende, Alleinerziehende, Jugendliche oder Seniorinnen und Senioren handelte, mussten Berührungspunkte zu den Menschen gefunden werden, zu denen sie Vertrauen genießen.
Die Arbeitsagentur gehörte dazu ebenso wie die Caritas, Familienzentren oder Anlaufstellen für Sprachkurse. Aber auch kleinere Verbände, die beispielsweise über persönliche Kontakte kommen, erweisen sich hier als hilfreich. Die Kontaktaufnahme und Ansprache dieser Mittlerorganisationen können in die Hände von spezialisierten Dienstleistern gelegt werden, weil viel Zeitaufwand dafür notwendig ist. Im Rahmen der regulären Arbeitszeit ist dies von Behörden nicht immer zu leisten.
Erkenntnis 3 – Klare Regeln für die Methodik in der Fokusgruppe festlegen
Es muss von Anfang an klar sein, wie in der Gruppe gearbeitet und miteinander kommuniziert wird. Feststehende Regeln, auf die sich alle einigen und die durch die Gruppe auch „überwacht“ werden, sind wichtig für den wertschätzenden Umgang miteinander. Dazu gehört, dass sich jeder zu einer gestellten Frage äußern kann. Niemand wird unterbrochen, jeder hat die Chance, sich zu beteiligen.
Die Methodik sollte unterhaltsam sein, die Beteiligten mit unterschiedlichen Reizen ansprechen, u. a. mit Interviews, Bildern für die Anschaulichkeit und Mit-Mach-Formaten (bei FETA gab es Energie-Tagebücher, die zur Diskussion anregten). Die Bedürfnisse der Teilnehmenden haben höchste Priorität, um die Motivation nicht zu verlieren.
Das bedeutet auch, flexibel im Ablauf zu bleiben und nicht nur Pausen nach Plan einzulegen, sondern dann, wenn es nötig ist. Charlotte Ruhbaum setzt bei diesen Runden auf das Gespür für die Gruppe, welches man als Moderatorin oder Moderator entwickeln muss.
Das Vertrauen in den Prozess wird bei den Teilnehmenden durch offene Kommunikation gestärkt: Es braucht transparente Informationen über die Ergebnisse ihrer Arbeit. Fragen wie „Was hat sich aus der gemeinsamen Arbeit entwickelt?“ oder „Wer beschäftigt sich damit?“ sollten beantwortet werden.
Wichtig dabei ist das Erwartungsmanagement, denn es ist nicht gesagt, dass die Empfehlungen bzw. Maßnahmen eins zu eins umgesetzt werden. Aber die zuständigen Stellen der Politik werden davon hören und (im Idealfall) die Ergebnisse diskutieren.
Erkenntnis 4 – Benachteiligte Zielgruppen mit ausreichend Ressourcen gewinnen
Die größte Hürde beim Einbeziehen von marginalisierten Gruppen bei Beteiligungen ist die Rekrutierung selbst. Hier gibt es die 8 wichtigsten Tipps, mit denen das Projekt FETA sehr gute Erfahrungen gemacht hat.
- Die Zielgruppe muss in ihrer Lebenswelt angesprochen werden – wo sind die Wunschteilnehmenden im Alltag unterwegs? → Wie erwähnt, sind Treffpunkte und Organisationen ein erfolgreicher Ansatz.
- Hat die Organisation Vertrauen, dann hat es häufig auch die Zielgruppe.
- Für die Kommunikation mit der Zielgruppe gilt: authentisch bleiben, in angemessener (leichter) Sprache sprechen.
- Der Prozess benötigt Zeit. Für die Fokusgruppen bei FETA wurden über 100 Mittlerorganisationen kontaktiert, nur wenige nahmen teil.
- Kompensationen wie Aufwandsentschädigung, Fahrkosten oder Verpflegung vor Ort erhöhen den Anreiz zur Teilnahme.
- Auch ein wertschätzender Austausch ist ein Anreiz für die Beteiligten, im Prozess zu bleiben.
- Sprachliche Barrieren können durch Übersetzerinnen und Übersetzer überwunden werden; Dokumente immer vorlesen, um ein Verständnis zu schaffen.
- Ein geschützter Raum in den Mittlerorganisationen erhöht das Vertrauen, weil man sich in einem bekannten sozialen Umfeld befindet.
Fazit zur Beteiligung von marginalisierten Gruppen
Menschen, die sozial benachteiligt sind und in der Öffentlichkeit meist kaum Aufmerksamkeit erhalten, sind schwer für Beteiligungsformate erreichbar. Dabei machen sie einen großen Teil der Bevölkerung aus und ihre Meinungen sind wichtig für die Entscheidungen der Politik.
Wie es gelingt, dass man MIT diesen Menschen spricht, statt nur ÜBER sie, macht das europaweite Beteiligungsformat FETA deutlich: Zielgruppen waren hier explizit marginalisierte Gruppen, die über eine faire Energiewende diskutierten. In sogenannten Fokusgruppen erarbeiteten sie Empfehlungen für die Politik.
Erfolgsfaktoren waren die Ansprache über Mittlerorganisationen, der wertschätzende, moderierte Austausch auf Augenhöhe, das Gespür für die Bedürfnisse der Gruppe und ein transparentes Erwartungsmanagement. Die wichtigste Lektion in der Vorbereitung lautet: Zeit für das Anwerben der Menschen einplanen!
Wir danken Charlotte Ruhbaum von der Stiftung Mercator für den Blick hinter die Kulissen von FETA und ihre Tipps zur Einbindung von marginalisierten Gruppen. Hier finden Sie die Präsentation zu "Marginalisierte Gruppen beteiligen".